… und noch eine Geschichte

Eine Geschichte von Jorge Bucay aus dem Buch
„Komm, ich erzähl dir eine Geschichte“
Fischer Taschenbuch Verlag 2007

Der schwangere Topf

Eines Nachmittags wollte sich ein Mann bei seinem Nachbarn einen Topf ausborgen. Der Topfbesitzer war darüber nicht allzu sehr erfreut, fühlte sich aber verpflichtet, den Topf zu verleihen.
Vier Tage später hatte er den Topf noch immer nicht zurück, also ging er zum Nachbarn und bat unter dem Vorwand, ihn selbst zu benötigen, um seine Herausgabe.

»Gerade wollte ich zu Ihnen kommen und ihn zurückbringen… Es war eine schwierige Niederkunft!«
»Was für eine Niederkunft?«
»Die Niederkunft des Topfes.«
»Wie bitte?«
»Ach, wussten Sie das gar nicht? Der Topf war schwanger.« »Schwanger?«
»Ja, noch in derselben Nacht hat er Nachwuchs bekommen. Deswegen brauchte er eine kleine Erholungspause, aber jetzt ist er wieder auf den Beinen.«
»Auf den Beinen?«
»Ja, einen kleinen Moment bitte.«

Der Nachbar ging in seine Wohnung und kehrte mit dem Topf, einem Krug und einer Pfanne zurück.

»Die gehören mir nicht. Nur der Topf.«
»Nein, nein. Das sind schon Ihre. Das sind die Kinder des Topfes. Und wenn der Topf Ihnen gehört, dann gehören Ihnen auch seine Kinder.«

Der Mann hielt seinen Nachbarn für komplett verrückt. >Am besten, ich lasse mich auf das Spiel ein<, dachte er bei sich.

»Schönen Dank auch.«
»Nichts zu danken. Auf Wiedersehen.«
»Wiedersehen.«

Und der Mann kehrte mit dem Krug, der Pfanne und dem Topf in seine Wohnung zurück.

Am Nachmittag klingelte der Nachbar wieder an seiner Tür.

»Herr Nachbar, ob Sie mir einen Schraubenzieher und eine Zange borgen könnten?«

Diesmal fühlte sich der Mann noch mehr in der Pflicht als beim letzten Mal.

»Aber natürlich.«

Er ging ins Haus und kehrte mit der Zange und dem Schraubenzieher zurück.

Es verging fast eine Woche, und als der Mann gerade gehen wollte, um sein Werkzeug zurückzufordern, klingelte der Nachbar an seiner Tür.

»Hallo, Herr Nachbar, haben Sie das gewusst?«
»Was denn?«
»Dass die Zange und der Schraubenzieher ein Paar sind?«
»Sagen Sie bloss!« sagte der Mann mit weit aufgerissenen Augen. »Nein, das wusste ich nicht.«
»Ich war unvorsichtig, ich habe sie nur einen Moment allein gelassen, und da ist sie schwanger geworden.«
»Die Zange?«

»Die Zange. Ich habe Ihnen ihre Nachkommen mitgebracht.«

Und aus einem Korb holte er ein paar Schrauben, Muttern und Nägel hervor, die, wie er sagte, die Zange zur Welt gebracht hatte.

>Er ist komplett verrückt gewordene<, dachte der Mann. Aber Nägel und Schrauben konnte man immer gebrauchen.

Zwei Tage vergingen, und schon war der zudringliche Bittsteller wieder an der Tür.

»Als ich Ihnen neulich die Zange zurückbrachte«, sagte er, »habe ich gesehen, was für eine hübsche Goldvase bei Ihnen auf dem Tisch steht. Ob Sie sie mir freundlicherweise für eine Nacht ausleihen könnten?«

Dem Besitzer der Vase gingen die Augen über.

»Aber natürlich«, sagte er mit grosszügiger Geste und ging ins Haus, um das erbetene Stück zu bringen.
»Vielen Dank, Herr Nachbar.«
»Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen.«

Die Nacht verging, und auch die nächste, ohne dass der Besitzer der Vase es gewagt hätte, bei seinem Nachbarn um deren Rückgabe zu bitten. Dennoch, nachdem eine Woche vergangen war, konnte er seine Sorge nicht mehr im Zaum halten und ging zum Nachbarn, um seine Vase zurückzufordern.

»Die Vase?« sagte der Nachbar. »Ach, haben Sie es noch nicht gehört?«
»Was denn?«
»Sie ist bei der Niederkunft gestorben.«
»Wie, bei der Niederkunft gestorben?«
»Ja, die Vase war schwanger und ist bei der Niederkunft gestorben.«
»Sagen Sie, halten Sie mich für völlig verblödet? Wie kann eine Goldvase schwanger sein?«
»Aber Herr Nachbar. Die Schwangerschaft und die Niederkunft des Topfes haben Sie hingenommen. Auch die Hochzeit und die Nachkommenschaft von Schraubenzieher und Zange. Wie können Sie jetzt an der Schwangerschaft und dem Tod der Vase zweifeln?«